Alexander & Isabelle Bis dass der Tod uns scheidet


Wir schreiben das Jahr 3369, dreizehn Jahrhunderte nach dem großen Deichbruch. Die alte Hansestadt Groningen ist die Hauptstadt des Kaiserreichs Loveringen. Die Stadt ist heute viel größer als im einundzwanzigsten Jahrhundert und zählt eine halbe Million Einwohner. Kaiser Gregorius II. regiert das Reich. Auf dem großen Markt steht der Spiegelpalast, der Sitz seiner Macht. Am Hauptbahnhof südlich des großen Marktes treffen alle Züge aus allen Landesteilen ein. Es sind magische Züge – eine besondere Mischung aus Technik und Magie. Dies sieht man überall. Man begegnet es bei den magischen Klippern, die im Seehafen nördlich der Stadt anlegen, und in allerlei technischen Produkten wie Smartphones, Smartwatches und ähnlichen Geräten. Die gemeinsame Eigenschaft all dieser Produkte ist ihre hohe Langlebigkeit. Ein Smartphone, das ein Jahrhundert alt ist, ist keine Seltenheit, sondern eher die Regel. Meist erbt man so ein Telefon von einem verstorbenen Familienmitglied und teilt damit dessen Erlebnisse und Erinnerungen. Die Stadt ist offen und besitzt viel Grün. In den zahlreichen großen Parks besucht Mutter Natur die Menschen, doch es gibt stets auch Bildhauerkunstwerke, die den Besuch eines Parks lohnenswert machen. Entlang der vielen Kanäle mit ihrem kristallklaren Wasser stehen die Generationenhäuser, in denen die einfachen Leute gemeinsam wohnen: junge Familien mit Kindern, ältere Paare, deren Kinder gerade ausgezogen sind, und die Alten, die im Erdgeschoss leben. Sie wohnen zusammen in einem großen Haus und unterstützen einander. Alle Bauwerke der Stadt sind für die Ewigkeit gebaut – und für die Schönheit.
Im Studentenviertel der Stadt befinden sich die Akademien und Universitäten. Dort gibt es die Akademie für Angewandte Magie mit ihren drei Fakultäten Medizin, Technik und Krieg. Die Technische Universität arbeitet eng mit der magischen Variante zusammen. Die Akademie Minerva widmet sich den Schönen Künsten in all ihren Ausdrucksformen. Im Groningen des Jahres 3369 muss nicht alles sinnvoll und funktional sein. Im Kaiserreich Loveringen gibt es kein Geld mehr, und die Menschen legen wenig Wert auf Reichtümer und deren Zurschaustellung. Viel wertvoller sind schöne, langlebige Dinge – auch wenn sie scheinbar keine Funktion oder keinen Zweck haben.
Peter van Harkelen ist Hofnarr am Hofe Kaiser Gregorius II. Neben seinem Schalkwesen ist er auch Spion. Er ist Magier und hat an der Akademie für Angewandte Magie studiert, Unterfakultät Spionage der Fakultät Krieg.
Kaiser Gregorius hat ihn zu sich gerufen.
„Was kann ich für dich tun, Greg?“
„Ah, Peter, willkommen. Es geht um meinen Sohn Alexander. Ich möchte wissen, was er so treibt. Du sollst ihn unauffällig beobachten. In drei Monaten wird er achtzehn und damit Mann. Ich will nicht, dass ihm etwas geschieht, das dem Kaiserreich schadet.“
„Okay, wie oft soll ich berichten?“
„Wöchentlich, Peter. Komm einfach jederzeit zu mir, du hast unbegrenzten Zugang zu meinen Gemächern.“
„Zu Euren Befehlen, Majestät. Sonst noch etwas?“
„Nein, das war alles. Du kannst gehen.“

Alexander ist ein ernster junger Mann. Man wird ihn nicht im kaiserlichen Bordell finden, wo man den Freuden der Huren frönt. Auch sieht man ihn nicht in den Kneipen der lebhaften Innenstadt der kaiserlichen Hauptstadt, trunken von zu viel Bier und Alkohol. Eher findet man ihn in einem literarischen Café, wo er lange philosophische Gespräche mit anderen Gästen führt. Oder in einem der großen Parks der Kaiserstadt, sitzend auf einer Bank und in einem Buch lesend.
Hier trifft er Isabelle, die Tochter von Lodewijk van Herwegen, Professor an der Akademie für Angewandte Magie. Eine Erstgrad-Magierin mit außerordentlich starken magischen Kräften.
Isabelle studiert an der Akademie für Angewandte Magie an der Fakultät Medizin. Sie möchte eine erstgradige Medizinerin werden.
Sie setzt sich neben Alexander, und sie kommen ins Gespräch.
„Welches Buch liest du?“, fragt sie.
Alexander blickt auf und sieht sie an. Er sieht eine junge Frau mit strahlend hellblauen Augen, zurückhaltend, aber keineswegs schüchtern. Ein schmales, intelligentes Gesicht. Wunderschöne lange blonde Haare.
„ ‚Über die Schönheit der Dinge‘ von Francesco Filippo“, antwortet er.
Sie schaut ihm direkt in die Augen.
Er fühlt sich innerlich weich werden.
Ihr Gespräch dreht sich um Malerei, Bildhauerei, Literatur, Musik und Baukunst – um alles, was das Leben lebenswert macht. Was ist das Leben noch wert, wenn es nur noch um Effizienz und Gewinn geht? Wenn alles grau und trostlos wird durch funktionalen Beton? Wenn alle Schönheit verschwindet und nur noch Zahlen zählen?
Ein Monat später treffen sie sich fast täglich. Ihre Liebe erwacht.
Eines Tages schenkt Alexander ihr eine rote Rose. Es ist eine rote Ingrid Bergman. Eine Rose, von der sie weiß, dass sie nur im Rosarium wächst. Eine rote Rose für seine große Liebe. Eine Rose, die für Liebe, Treue, Respekt und Freundschaft steht. Doch das Pflücken einer Rose im Rosarium ist verboten. Es gibt jedoch eine Ausnahme: Eine rote Rose darf man nur seiner großen Liebe pflücken, und zwar nur nach einer Zeremonie. Man darf eine solche Rose nur pflücken, wenn man sich an einer ihrer Dornen sticht und der Pflanze einen Tropfen seines Blutes schenkt.
Isabelle ist tief bewegt und gibt ihm einen verstohlenen Kuss auf die Wange. Das ist eigentlich nicht erlaubt – eine Frau wie sie küsst keinen Prinzen des Kaiserreichs.
Alexanders Wangen werden rot, und er stottert: „Isabelle, ich...“
Und so wächst ihre Liebe.

Peter van Harkelingen beobachtet alles und hört alles, was sie einander sagen. Das sind die Fähigkeiten eines magischen Spions: Er kann aus der Ferne sehen und hören.

Eines Tages kommt Alexander zu seiner Isabelle und überreicht ihr einen Ring. Es ist ein goldener Ring mit einer Gravur.
Als sie liest, was dort steht, muss sie heftig weinen.
„Ach Isabelle, warum weinst du denn?“
„Ach Alexander, in zwei Wochen wirst du achtzehn – dann bist du ein Mann.“
Die Liebe macht blind.
Als ihm das bewusst wird, wird er blass.
„Alexander...“
Sie legt ihre Hand auf sein Knie.
„Lebwohl.“

Peter van Harkelingen sieht alles und ist schockiert. Das darf und kann nicht sein.

Es ist der 23. August, Alexander ist achtzehn Jahre alt. Heute wird er zum Mann. Morgens geht er zum Schmied, um sein Schwert abzuholen, mittags zu den kaiserlichen Ställen, um sein Pferd auszuwählen, und abends zum Ball, wo er seine Frau wählt.

Dreimal eine Bindung fürs Leben.

Frühmorgens am 23. August wird Isabelle zum Kaiser bestellt.
Sie trifft Gregorius und seine Frau Roxanne zusammen an.
„Hallo Isabelle, ich mache es kurz: Wir wissen, dass du meinen Sohn liebst, und wir wissen, dass er dich liebt. Wir wissen, dass ihr füreinander bestimmt seid. Es ist von großer Bedeutung, dass ein künftiger Kaiser die richtige Frau an seiner Seite hat. Deswegen lade ich dich zu dem Ball heute Abend ein.“
„Aber Sire...“
„Oh Isabelle, ich weiß, du denkst, du hast keine passenden Kleider, was du anziehen sollst. Aber das hast du. Komm einfach als du selbst.“
„Danke, Sire.“
„Isabelle.“
„Ja, Sire?“
„Bis heute Abend, Isabelle.“

An diesem Morgen holt der Waffenschmied Alexander ab, zusammen mit zwei Erstgrad-Magiern.
„Kommst du mit, Alexander? Heute schmieden wir dein Schwert.“
Der Schmied entfacht das Feuer, und das Metall der Klinge beginnt rot zu glühen.
„Zieh den Handschuh an“, sagt der Schmied.
„Warum?“, fragt Alexander.
„Damit du keine Brandwunden bekommst, wenn du die Klinge anfasst und das Metall zum Griff formst. Die Parierstange mache ich.“
„Tut das nicht weh?“
„Du wirst heute doch ein Mann, oder?“, weicht der Schmied aus.
Alexander zieht den Handschuh an, greift das rotglühende Metall und drückt es zusammen, so dass der Griff des Schwerts entsteht.
Inzwischen murmeln die beiden Erstgrad-Magier ihre Zaubersprüche, wodurch ein mächtiges magisches Schwert entsteht.
Es tut höllisch weh, doch er zeigt keine Schwäche.
„Na also, ein echter Kerl“, sagt der Schmied.
„Du bist fertig. Nächste Woche ist das Schwert bereit, du kannst es abholen.“
Am Nachmittag wählt er in den kaiserlichen Ställen einen Andalusier aus. Ein freundliches Pferd, schnell, wendig und schlau.
Aber am Abend geht er mit schweren Schritten zum Ball.
Alexander hat seine Wahl bereits getroffen, doch sie wird nicht dort sein.
Seine Überraschung ist jedoch umso größer, als er sie dort stehen sieht.
Dort steht sie in ihrem schlichten, eiergelben, langen und eng anliegenden Kleid. Kein Make-up, kein Schmuck, nur ihre langen blonden Haare und an ihrem linken Ringfinger der Ring – der direkte Weg ins Herz ihres Partners.
Alexander ist wie ein Kind vor Freude, sie zu sehen. Er rennt auf sie zu, nimmt sie in die Arme und küsst sie leidenschaftlich. Ihre Verbindung ist besiegelt. Für immer die ihre und für immer die seine.


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